Das Leben ist kein ruhiger Fluss
Der Schrecken war nicht da, zunächst nicht, zunächst galt es noch den Granatbaum zu retten. Er stand an der Abbruchkante der Terrasse und drohte in die Wassermassen zu stürzen. Erst als Christian Haller gemeinsam mit Technikern und Ingenieuren im Boot der Kraftwerksgesellschaft saß und in die klaffende Wunde blickte, die einmal seine Terrasse war, schlich sich das Ausmaß der Zerstörung langsam in sein Bewusstsein. Das Hochwasser hatte das Haus in dem er lebte bis in dessen Fundamente hinein zerstört. Mehr noch: Es hatte auch seine Lebensfundamente angegriffen, das ins Wanken gebracht, worauf er gebaut hatte – als Schriftsteller und als Mensch.


Mit Die verborgenen Ufer hat der Schweizer Schriftsteller Christian Haller einen sehr persönlichen Roman geschrieben. Wer Hallers Bücher kennt ist seinen Lebensstationen von Werk zu Werk gefolgt. In der Trilogie des Erinnerns beispielsweise erzählt er Teile seiner Familiengeschichte, jetzt legt er Schicht für Schicht seine Existenz frei. So wie der Schüler Christian Haller bei seinen archäologischen Ausgrabungen arbeitet, verfährt der Schriftsteller Christian Haller mit sich selbst. Er berichtet aus seiner Kindheit, geprägt von einem autoritären Großvater, einem labilen aber nicht weniger autoritären Vater und einer Mutter, die sich in die Erinnerungen an eine noble Bukarester Vergangenheit geflüchtet hat. Er berichtet von sich als Kind, das sich erst an das Sehen von Farben gewöhnen musste, das über viele Jahre an einer legasthenischen Lese- und Schreibschwäche litt und er berichtet über die wechselnden Leidenschaften für die er brannte – als Kind, als Jugendlicher und als junger Erwachsener.
An einem regnerischen Tag radelte er mit seinem Freund Fredi auf einem Kinderfahrrad zu seiner ersten archäologischen Exkursion. Viele folgten, bis beide bei einem Kongress von einem führenden Wissenschaftler vor Publikum abgekanzelt wurden. Danach war es Schluss mit der Archäologie. Mit der gleichen Intensität wandte er sich der Schauspielerei zu, las Stücke, rezitierte große Monologe, fühlte den Stolz und den unbeugsamen Charakter Wallensteins in sich und konnte Hamlets Zögern und Angst in sich spüren. Dann hörte er seine Stimme auf einer Tonbandaufnahme und war schockiert. Wallenstein und Hamlet hatten einen Sprachfehler. Sie konnten kein R. Aber auch das wird er üben, bis er es beherrscht.
Selbstverständlich gab es auch Lieben auf diesem Weg. Eine hat Christian Haller verspielt, die zweite beinah. Da war er schon Dichter - ohne Erfolg noch und ohne Verlag. Irgendwann, im Übergang von der Jugend in eine frühe Erwachsenenwelt, hatte er seinen Weg zum Schreiben gefunden. Im Maggiatal war er auf einen Stein gestoßen und glaubte in dessen Linien seine Zukunft zu sehen. „Ich müsste Stein werden", dachte er und schrieb noch am selben Tag sein erstes Gedicht.
Wenn Christian Haller vom Werden eines Schriftstellers erzählt, dann ist das keine autobiographische Nabelschau. Es ist vielmehr ein sich Einfühlen in eine intime Gedankenwelt. Haller weiß, dass Erinnerungen ihren eigenen Wahrheiten gehorchen, dass sich auch im eigenen Leben Realität und Fiktion vermischen. Seinem feinen, künstlerischen Gespür ist es zu verdanken, dass sich auch in diesem Roman beides bruchlos miteinander verbindet. Das Leben ist kein ruhiger Fluss, das Erzählen schon.Die verborgenen Ufer, der Roman von Christian Haller ist soeben im Luchterhand Literaturverlag erschienen.
